Neue Barrieren für mobilitätsbehinderte Fußgänger: Kinderwagen auf Rolltreppen verboten
Seit diesem Jahr ist das Benutzen von Fahrtreppen mit Kinderwagen grundsätzlich ein „unsachgemäßes Verhalten“ und es sind entsprechende Verbotsschilder anzubringen. Diese neue Regelung hat in der Öffentlichkeit einigen Wirbel verursacht. Das Deutsche Institut für Normung redet die Veränderung klein und bleibt die Antwort schuldig, wie das Unfallaufkommen bisher aussah. Für die Normen-Verfasser sind Fahrtreppen „nicht Bestandteil eines barrierefreien Transportsystems“.
In der bisherigen Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates (Maschinenrichtlinie 98/37/EG) wurde die Berücksichtigung „nicht ordnungsgemäßer Verwendung“ bei Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen gefordert. Seit 2006 geht die EG-Richtlinie (2006/42/EG), ins deutsche Recht umgesetzt durch die Maschinenverordnung am 29. Dezember 2009 (9.GPSGV), darüber hinaus: „auf vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen (unsachgemäßes Verhalten)“ muss eine „angemessene Reaktion“ erfolgen mit „notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen.“ Gefordert wird die „Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken….“ (1.1.2., a) und b).
Bisher wurde in der für das „Inverkehrbringen von Fahrtreppen“ geltenden DIN-Norm aus dem Jahre 1995 darauf hingewiesen: „Zusätzliche Hinweise können aufgrund örtlicher Bedingungen erforderlich werden, z.B. ´Benutzung nur mit Schuhwerk gestattet´, `Keine sperrigen und schweren Lasten transportieren`, `Kinderwagentransport verboten`.“ Mit Veröffentlichung der DIN EN 115-1 im März 2009 gilt: „Folgende Gebots- und Verbotszeichen für den Benutzer müssen in der Nähe der Zugänge angebracht sein: „Kinderwagen verboten“ (7.2.1.2.1, d). Mit dieser kleinen Veränderung von „können“ in „müssen“ ist die Rolltreppenbenutzung mit einem Kinderwagen grundsätzlich und in ganz Deutschland ein „unsachgemäßes Verhalten“. In Deutschland wird also nicht über „Restrisiken unterrichtet“ (wie beim Kleingedruckten im Beipackzettel von Medikamenten), sondern „verboten“.
Unfalldaten liegen nicht vor
Das deutsche Institut für Normung begründet die Veränderung mit dem Hinweis, dass „Unfälle mit Kinderwagen auf Fahrtreppen…keine Seltenheit“ sind (PR 20.1.2010), geht aber nicht näher auf die Dringlichkeit der Verhältnisprävention ein oder nennt gar Zahlen. Das aber ist die spannendste Frage überhaupt. Auf eine Pressenachfrage erwiderte die Sprecherin des Verkehrsunternehmens der größten deutschen Stadt „Offenbar sei es in der Vergangenheit – wenn auch nicht in Stationen der BVG – zu Unfällen gekommen.“ (Der Tagesspiegel 29.1.22009) In den Stuttgarter Nachrichten gibt es auch keinen Hinweis zu örtlichen Unfällen: „Es komme immer wieder zu schweren Unfällen, so die EU.“ (Stuttg.N. 1.1.2010) So zieht sich das durch die Medien. Auf eine Nachfrage gab der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV) bekannt, dass „keine Statistik über Unfalldaten der Verkehrsunternehmen auf Rolltreppen und deren Ursachen vorliegen.“(27.1.2010). Die Zu- und Abgänge der öffentlichen Verkehrsmittel sind aber für uns das wesentliche Problem, da z.B. in Kaufhäusern in der Regel auch Fahrstühle existieren. In Berlin sind derzeit lediglich 40 % aller BVG-Stationen mit Aufzügen ausgestattet. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), der es wissen müsste und z.B. Straßenverkehrsunfälle deutlich genauer auswertet als die üblichen Unfallstatistiken, meldete: „Uns liegen keine Daten vor. Es ist also nichts an uns herangetragen worden, dass es nennenswerte Schäden gibt.“(27.1.2010)
Verbote sind nicht rechtswirksam
Die juristische Sachlage ist eindeutig: „Wer das Schild missachtet und einen Kinderwagen mitnimmt, macht sich nicht strafbar.“ (PR DIN 20.1.2010) DIN-Normen sind „private Regelwerke mit Empfehlungscharakter“ (BGH, 14.6.2007, Az.VII ZR 45/06, NJW 2007, 2983, RdNR. 37). Insofern ist es auch erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit z.B. einige Kaufhäuser reagieren, so hat z.B. das Kaufhaus Alexa am Alexanderplatz in Berlin bereits Anfang 2008 Poller vor die Rolltreppen-Eingänge installiert, wo ein Kinderwagen nicht hindurch passt. (Tsp. 29.12.2009)
Dennoch könnte die neue Norm als „Stand der Technik“ nach einem Unfall Folgen haben. „Man wird nachweisen müssen, dass der Kinderwagen nicht ursächlich war,... dann bezahlt weiterhin die Haftpflichtversicherung des Rolltreppenbetreibers. Gelingt dieser Nachweis nicht, muss man selbst bezahlen. Eventuell springt die eigene Unfallversicherung ein. Es wird spannend, wie sich das entwickelt.“ (Dr. Matthias Müller, Sprecher des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft in Berlin, Stuttg.N. 1.1.2010).
In der Tat ist zu beobachten, dass Kinderwagen mit nicht festgestellten Vorderrädern mitunter verkantet auf die Rolltreppe gebracht werden oder diese so nicht rollend verlassen können. Das wäre eine Aufgabe einer DIN-Norm, technisch dafür zu sorgen, dass dieser „materielle Gegenstand“ für z.B. die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel geeignet sein muss. Anzunehmen ist, dass in einem solchen Fall nach einem Unfall die Rolltreppenbetreiber nachgewiesen hätten, dass dieser Unfall nicht durch das System verursacht wurde, so es denn einen derartigen Unfall gegeben hätte.
Fazit
Bei einer nicht strafbaren Handlung kann man mit dem folgenden Hinweis keinen „Aufruf zu einer strafbaren Handlung“ unternehmen: Wenn Keine Rolltreppen vorhanden sind und auch helfende Hände nicht in Sicht, dann ist es unzumutbar, nicht auch mit einem Kinderwagen weiterhin Fahrtreppen zu benutzen – was man dann auch tun sollte. Natürlich ist es sinnvoll, für alle Mobilitätsbehinderten in Bahnhöfen Fahrstühle einzubauen.
Quellennachweise:
Sicherheit von Fahrtreppen und Fahrsteigen – Teil 1: Konstruktion und Einbau; Teil 2: Regeln für die Erhöhung der Sicherheit bestehender Fahrtreppen und Fahrsteige, Deutsche Fassung EN 115-1:2008; Ausgabe 2009, Deutsches Institut für Normung (Hrsg.), www.DIN.de
Die aufgeführten Regelwerke können beim Verlag http://www.beuth.de/de/regelwerke/auslegestellen zu recht hohen Kosten bestellt werden. DIN bzw. EN können Sie nicht über Ihre örtliche Bibliothek zur Ausleihe anfordern. Sie sind jedoch in ca. 100 Normenauslegestellen kostenlos einzusehen, eine Übersicht finden Sie unter http://www.din.de/de .
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen.
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